Wiederaufbau der zerstörten Städte wird vorbereitet

Architektur 1944:

Mit der Landung der Alliierten in der Normandie und dem sowjetischen Vormarsch nach Westen ist das Ende des Zweiten Weltkrieges in greifbare Nähe gerückt. Zu diesem Zeitpunkt liegen ganze Städte in Schutt und Asche. Hunderttausende sind in den Trümmern und Feuerstürmen umgekommen, Millionen sind obdachlos.

Die deutschen Städteplaner reagieren angesichts der drohenden Niederlage in zweifacher Form: Einerseits werden, um das Durchhaltevermögen der Bevölkerung zu stärken, zahllose Entwürfe für Triumphbögen, Siegesalleen und Denkmäler zur Feier des baldiges »Endsieges« publiziert. Andererseits bereiten die Planungsstäbe um Albert Speer den Wiederaufbau der zerstörten Städte auf modernstem bautechnischem Niveau vor. Fragen der Rationalisierung, Mechanisierung und Typisierung stehen dabei im Vordergrund. Wohnbauten werden dadurch zu industriellen Massenprodukten.

Ähnliche Überlegungen – allerdings aus ganz anderen Beweggründen – stellen auch die international renommierten Architekten Walter Gropius und Le Corbusier an. Gropius, dem es inzwischen gelungen ist, die Staatsbürgerschaft der USA zu erhalten, beschäftigt sich wegen fehlender Aufträge mit der Entwicklung stark standardisierter, am Fließband produzierbarer Fertigteilhäuser im schlichten Landhausstil, in erster Linie gedacht für den aufstrebenden Mittelschicht-Amerikaner, zur Schnellmontage in den sich immer weiter ausbreitenden Teppichsiedlungen im Dunstkreis der Metropolen.

Le Corbusier macht sich mangels lukrativerer Aufgaben Gedanken über die Anforderungen, denen die Städte in Zukunft prinzipiell genügen müssen, um ihren Bewohnern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Besonderes Augenmerk richtet er dabei auf die Spannungszonen zwischen Wohnen und Arbeiten, Freizeit und Verkehr. Es entstehen städtebauliche Theorien, die er später einmal in den 50er Jahren bei der Planung und Ausführung der indischen Provinzhauptstadt Chandigarh in die Realität umsetzen kann.

Außerdem studiert Le Corbusier die Vorteile der Beton-Fertigteilmontage und des Trockenausbaues bei der Errichtung dringend benötigter Notwohnungen. Seine Forschungen münden schließlich in der Idee einer »unité d’habitation«: 500 zweigeschossige Wohnungen in einem langgestreckten, hohen Gebäude, erschlossen durch innenliegende Flure in jedem dritten Geschoss, mit Läden, Sport- und Freizeiträumen, Kindergarten, Wäscherei und Theatersaal. Er weist nach, dass so auf einer Fläche von nur 160 x 160 m die gleiche Anzahl von Wohnungen untergebracht werden kann wie auf 450 x 450 m in üblicher Bauweise, wobei die flächensparende »unité« den zusätzlichen Vorteil großer, zusammenhängender Grünanlagen bietet – angesichts der Kriegsverheerungen und der ungewissen Zukunft Europas ein sicherlich faszinierender architektonischer Entwurf.

In Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden ist man realistisch genug, den Wiederaufbau vorrangig als raumordnerisches und städtebauliches Problem zu betrachten. Weitsichtige Politiker und Architekten sehen die Chance, die zukünftigen Stadtstrukturen von historisch bedingten Fehlentwicklungen zu befreien und Platz zu schaffen für die veränderten Bedürfnisse des modernen Lebens. Die Städte sollen Raum bieten für durchgrünte Wohnquartiere mit viel Luft und Sonne; Gewerbe und Industrie sollen in Randgebiete verlagert werden, weitläufige Freizeitreviere sollen entstehen.

Das markanteste Beispiel für eine solche Planungsweise ist Rotterdam. Am 14. Mai 1940 dem Erdboden gleichgemacht, soll die Stadt nach Beendigung des Krieges unter großzügigen, modernen Gesichtspunkten Schritt für Schritt wieder aufgebaut werden.

Während man noch mit der Beseitung des Schutts und dem Abriss zerstörter Gebäude beschäftigt ist, fallen die grundlegenden Planungsentscheidungen für den Wiederaufbau: Das Stadtzentrum soll völlig neu gestaltet werden. Geplant ist ein rechtwinklig ausgelegtes Straßennetz, um möglichst normierte Bauparzellen zu erhalten. Der Wohn- und Geschäftskomplex »Lijnbaan« der Architekten Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Berend Bakema befindet sich 1944 noch im Entwurfsstadium. Ihr zukunftsweisendes Konzept sieht die Errichtung einer großzügig angelegten Einkaufszone mit breiten Fußgängerstraßen, zahlreichen Geschäften, überdachten Gängen, Kiosken, Bäumen und Bänken vor (errichtet 1952 – 1954).

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