Deutsches Verkehrssystem steht vor dem Zusammenbruch

Verkehr 1944:

Als Folge der Kriegsereignisse spitzt sich die angespannte Lage im deutschen Verkehrswesen bis zum Ende des Jahres 1944 dramatisch zu. Während einerseits immer mehr Verkehrsanlagen durch alliierte Bombenangriffe zerstört werden, erfordern andererseits der militärische und zivile Güter- sowie der Personenverkehr ständig steigende Beförderungskapazitäten. Haben die Alliierten in der ersten Hälfte des Jahres vorrangig Verkehrsziele in Frankreich und Belgien angegriffen, beginnen etwa ab September die Bombardierungen von Verkehrsanlagen im deutschen Reichsgebiet. Systematisch werden Eisenbahnknotenpunkte, Wasserwege, Straßen, Brücken und Flugplätze zerstört. Das Ziel besteht darin, militärische Transporte und Nachschublieferungen zu verhindern und die gesamte deutsche Kriegswirtschaft zum Erliegen zu bringen. Tatsächlich bereitet es der NS-Führung im Laufe des Jahres immer größere Schwierigkeiten, ihre Truppen an die vorgesehenen Einsatzorte zu verlegen. Als Folge der Verkehrsstörungen treten zusätzlich Probleme bei der Versorgung mit Lebensmitteln und zivilen Gebrauchsgütern auf. Da sich die alliierten Bombenangriffe auch gegen Treibstofflager und Hydrierwerke richten, erschwert der zunehmende Kraftstoffmangel die Lage in erheblichem Maße.

Während die Leistungsfähigkeit des Transportsystems drastisch abnimmt, steigt gleichzeitig der Nutzungsbedarf. Im zivilen Bereich entsteht er vor allem durch die Bevölkerung der Großstädte, die angesichts der Bombenangriffe aufs Land umsiedeln will, und – zum Ende des Jahres – durch die Ostbevölkerung, die nach dem sowjetischen Einmarsch im Reichsgebiet nach Westen flieht.

Dazu kommen die rein militärischen Transporte und die vom NS-Regime veranlassten Häftlingstransporte in Internierungs-, Konzentrations- oder Vernichtungslager sowie die Heranschaffung von ausländischen Zwangsarbeitern ins Deutsche Reich.

Zur Entlastung des Verkehrssystems, das vorrangig von der Eisenbahn getragen wird, ordnet die NS-Führung Einschränkungen im Bereich der »Vergnügungs«-Reisen an. Unter dem Motto »Räder müssen rollen für den Sieg« sind vom 17. Juli an Reisen auf Entfernungen über 100 km in Eil- und Personenzügen für Privatpersonen nur noch mit einer speziellen Bescheinigung möglich. Eine Sondergenehmigung wird nur dann erteilt, wenn der Reisezweck beruflicher Art ist oder wenn besonders wichtige private Gründe geltend gemacht werden können. Einmal im Jahr ist eine Reise zu Erholungszwecken – nach Abstempelung der Reichskleiderkarte – genehmigungsfrei erlaubt. Behinderungen im Verkehrswesen gibt es jedoch nicht nur bei Überlandfahrten, sondern auch im innerstädtischen Bereich. Hier wird der öffentliche Personentransport fast ausschließlich mit Straßenbahnen durchgeführt. Da dieses Verkehrsmittel meist hoffnungslos überfüllt ist und zudem für eine ordentliche Instandhaltung Arbeitskräfte und Material fehlen, mehren sich die Unfälle. Besonders gefährlich ist das »Trittbrettfahren«, das trotz nachhaltiger Warnungen immer stärker um sich greift. Ganze Menschentrauben hängen in den Hauptverkehrszeiten, oft noch mit Taschen und anderem Gepäck beladen, auf den Trittbrettern der Straßenbahnen und halten sich an Griffen, Türen, Fenstern oder auch anderen Verkehrsteilnehmern fest. Nicht selten geschehen schwere Unfälle und ein Trittbrettfahrer bezahlt sein riskantes Verhalten mit dem Leben oder trägt zumindest schwere Verletzungen davon.

Neben der Straßenbahn spielt im Wesentlichen nur noch ein weiteres Verkehrsmittel im innerstädtischen Bereich eine größere Rolle – das Fahrrad. Doch selbst auf dieses Transportgerät hat der Staat ein Auge: Beschränkten sich die Behörden anfänglich darauf, die Besitzer aufzufordern, ihre Fahrräder zu schonen, da es an Ersatzteilen fehlt, werden nun öfter Zweiräder beschlagnahmt, weil sie für nicht kriegswichtige Fahrten benutzt wurden.

Chroniknet