Geplante Einführung der Anschnallpflicht löst erregte Diskussion aus

Verkehr 1975:

Die vom 1. Januar 1976 an gültige Anschnallpflicht auf den Vordersitzen von Personenwagen löst in der Bundesrepublik Deutschland eine emotional gefärbte Debatte um den Sicherheitsgurt aus.

Dabei steht der Nutzen des Sicherheitssystems, wenn es richtig konstruiert und angelegt ist, außerfrage. Ohne Gurte erleiden Autoinsassen bei einem Unfall schon bei geringen Aufprallgeschwindigkeiten oft schwere Verletzungen oder werden getötet. Nach Ansicht von Experten können schwere Augen- und Wirbelsäulenverletzungen, tödliche Halswirbelsäulenbrüche, Bauchverletzungen und Beinverlust mit Todesfolge sowie ernste Armbrüche durch das Anschnallen ganz verhindert werden. Kopfverletzungen, Schnittwunden im Gesicht und der Verlust von Zähnen treten bei Gurtträgern deutlich seltener auf.

Dennoch begegnen die Bundesbürger der Anschnallpflicht mit großem Misstrauen. Viele haben offenbar Angst, bei einem Unfall ans Auto gefesselt zu sein, den Wagen vor allem bei einem Brand oder beim Fall ins Wasser nicht rechtzeitig verlassen zu können. Diese Art von Unfällen tritt allerdings so selten auf, dass sie statistisch gar nicht erfasst sind. Anderen, so vermuten Psychologen, bedeutet das Angurten eine dauernde Mahnung an die Möglichkeit, in einen Unfall verwickelt zu werden. Diese Assoziation wird lieber verdrängt – der Gurt bleibt am Haken. Hinzu kommt die menschliche Trägheit: Wer jahrelang unfallfrei gefahren ist, zeigt weniger Bereitschaft, Vorkehrungen gegen die Folgen eines Geschehens zu treffen, das scheinbar ohnehin nicht eintrifft.

Entsprechend gering ist die Wirkung der Aufklärungskampagnen, die vom Verkehrsministerium, aber auch von großen Automobilclubs gestartet wurden. Zwar sind große Teile der Bevölkerung inzwischen sehr gut über den Nutzen der Gurte informiert. Die Quote derjenigen, die das Sicherungssystem benutzen, bleibt gering: In geschlossenen Ortschaften, wo sich zwei Drittel aller Unfälle mit Personenschäden ereignen, liegt sie bei 16%, auf Landstraßen und Autobahnen etwas darüber.

Auch nach Einführung der Gurtpflicht wird es kein Bußgeld für Anschnallmuffel geben. Allerdings erwägen die Autoversicherer, nicht angeschnallte Unfallopfer mit dem Verlust von Versicherungsansprüchen oder Minderung von Schadensersatz zu »bestrafen«.

Chroniknet