Arbeitslosigkeit bleibt hoch

Arbeit und Soziales 1978:

Nach Jahren der Rezession kommt die Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland wieder in Schwung. Vor allem in der zweiten Hälfte des Jahres 1978 ist ein kräftiger konjunktureller Aufschwung spürbar. Dies zeigt sich deutlich an der Zunahme des Bruttosozialprodukts: Während die Summe aller erzeugten Güter und Dienstleistungen in den sechs Monaten um 2,9% steigt, beträgt der Zuwachs im zweiten Halbjahr bereits 3,8%.

Auf den Arbeitsmarkt wirkt sich diese positive Entwicklung jedoch nur in einem geringen Maß aus. Auch wenn 1978 die Zahl der Erwerbslosen erstmals seit vier Jahren die Millionengrenze unterschreitet, sind in der Bundesrepublik im Jahresschnitt 992 900 Menschen ohne Arbeit. Mit 4,3% liegt die Arbeitslosenquote nur knapp unter der des Vorjahres (4,5%). Die Zahl der Kurzarbeiter beträgt im Jahresschnitt 190700. Ursache für diesen verhältnismäßig geringen Rückgang sind vor allem die auf den Arbeitsmarkt drängenden geburtenstarken Jahrgänge, die abwartende Haltung der Unternehmen gegenüber Neueinstellungen sowie die zunehmende Rationalisierung und Automation.

Besonders große Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Arbeitsplatz haben nach einer Studie der Bundesanstalt für Arbeit ältere Menschen, an einer Teilzeitarbeit interessierte Frauen und Minderqualifizierte. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitslosen steigt ebenso wie die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit stetig. Großer Mangel herrscht dagegen bei gutausgebildeten Fachkräften.

Die Bundesanstalt für Arbeit trifft 1978 mit Billigung der Bundesregierung eine Entscheidung, die nicht nur unter Gewerkschaftern heftig umstritten ist. Die Zumutbarkeit eines im Rahmen der Arbeitsvermittlung angebotenen Arbeitsplatzes wird wesentlich weiter gefasst Gefordert wird vor allem eine größere räumliche und berufliche Mobilität der Arbeitssuchenden. So soll künftig denjenigen die Unterstützung entzogen werden, die nicht bereit sind, zur Aufnahme eines neuen Arbeitsverhältnisses in eine andere Stadt zu ziehen. Berufliche Herabstufungen müssen trotz damit verbundener finanzieller Einbußen in einem bestimmten Maße ebenfalls hingenommen werden.

Die Gewerkschaften machen die Arbeitgeber für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich. Sie beschuldigen die Industrie, an einer hohen Arbeitslosenquote interessiert zu sein, um bei Bedarf billige Arbeitskräfte »rekrutieren« zu können. Um die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, müsse die Arbeit umverteilt werden. Da die derzeitige wirtschaftliche Lage eine »Selbstheilung« des Arbeitsmarktes offenbar unmöglich mache, könne die Arbeitslosigkeit nur durch eine Verkürzung der Arbeitszeit bekämpft werden.

Die von den Gewerkschaften geforderte Einführung der 35-Stunden-Woche lehnen die Arbeitgeber unter dem Hinweis auf Rentabilitäts-, Kosten- und Wettbewerbsüberlegungen ab. Da die Gewerkschaften eine Verkürzung ohne Lohnausgleich ablehnen, sei die 35-Stunden-Woche nicht zu verwirklichen. Die Arbeitskosten lägen in der Bundesrepublik 1978 durchschnittlich bei 18,92 DM pro Stunde. Damit hätte die deutsche Industrie nach Belgien weltweit bereits die höchsten Aufwendungen. Weitere Kostensteigerungen seien nicht zu verkraften.

Die Gewerkschaften sind jedoch nicht bereit, in der Frage der Arbeitszeitverkürzung nachzugeben. 1978 kommt es in der Bundesrepublik zu zahlreichen Arbeitskämpfen, in deren Mittelpunkt nicht die Forderung nach höheren Löhnen, sondern nach kürzeren Jahres- oder Wochenarbeitszeiten, Sicherung der Arbeitsplätze oder ausgleichenden Maßnahmen für aus der Rationalisierung und Automation erwachsene Nachteile stehen. Die 35-Stunden-Woche können die Gewerkschaften nicht durchsetzen. Allerdings erreichen sie in mehreren Branchen eine Verkürzung der Jahresarbeitszeit durch zusätzliche freie Tage.

Chroniknet