»Nomadenleben« in der Wildnis – Abschalten vom Alltag

Urlaub und Freizeit 1911:

Der Sommer 1911 beschert die heißesten Tage seit Beginn des Jahrhunderts. Ende Juli steigt das Thermometer in Berlin auf über 35 °C im Schatten. Diese Witterung ermöglicht den Daheimgebliebenen herrliche »Strandbad-Ferien«, begünstigt jedoch zugleich den Urlaubs- und Freizeittrend »Hin zur Natur – weg von der Gesellschaft«, ein Verhalten, das nicht nur bei der begüterten Oberschicht zu beobachten ist, sondern auch immer mehr bei der Schuljugend: Gemeinsames Wandern und Erleben heißt die Parole des Wandervogels, je ferner von der Zivilisation, desto besser, meinen die Reichen.

»Die höchste Einfachheit ist wieder ein wohlberechneter Modeartikel geworden, etwa wie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Schrei nach der Rückkehr zur Natur wieder durch die vornehmste Pariser Welt ging, als Rousseau die Bewunderung der unverkünstelten Natur in Aufnahme gebracht hatte, oder noch früher, im Anfang des 18. Jahrhunderts, als das Schäferspielen gesellschaftsfähig geworden war.« So beschreibt die »Berliner Illustrirte Zeitung« den Urlaubstrend des Jahres 1911. »Heute gefällt man sich darin, sich in die primitivsten Anfänge des Kulturlebens künstlich zurückzuversetzen, um sich für einige Wochen von den Mühen und Anstrengungen des nervenaufreibenden Winterdaseins in den Großstädten zu erholen. Hat man ein halbes Jahr lang die Nächte durchgetanzt und durchgezecht, so bestrebt man sich, im Sommer durch einige Wochen mit den Hühnern zu Bett zu gehen und mit der Sonne wieder aufzustehen, in fernen Gegenden, in denen man sich selbst den Eindruck der Kulturlosigkeit noch vorzutäuschen vermag, wie ein Nomade oder Einsiedler zu leben, im Zelt zu hausen, sich sein bißchen Essen selbst zu kochen und nachts beim Sternenlicht das Geschrei wilder Tiere zu hören, sofern die Jagdlust des Menschen solche noch übriggelassen hat. Man haust in der Wüste, im Walde, auf dem Wasser.«

So gilt es als besonders »schick«, das warme Ägypten aufzusuchen und mehrere Wochen oder Monate ein Beduinenleben zu führen. In den USA ziehen kleine Gruppen in die Berge, um in schlichten Blockhäusern oder Zelten das zu praktizieren, was sie »Camping« nennen: Tagsüber in den Wäldern umherzustreifen, mit Baumfällen die Muskeln zu trainieren, sich eine Hütte durch eigene Arbeit mit Axt und Säge zu errichten, Bären zu schießen und sich auf diese Weise auf die Ver-gnügungs- und geschäftlichen Anstrengungen der Zeit nach dem Urlaub vorzubereiten. Das einfachste Essen erscheint Leuten, die sonst Terrapinschildkröten oder halbgare Canvas-Backenten goutieren, plötzlich am schmackhaftesten.

Die Mode des »Camping« ist von den tonangebenden Reichen in Amerika auf die Mittelklasse übergegangen. Studenten, Pensionate und Privatschulen ziehen mit Zeltgepäck in den Wald oder an ein Seeufer und verbringen hier die Zeit mit romantischem Trapperleben. Die wohlhabenden Klassen dehnen diese wochenlangen »Camping-Ausflüge« immer weiter aus, bis ins Innere Afrikas, in die Wälder am mittleren Kongo, in das Hochland von Ceylon.

In Großbritannien ist das Hausboot in Mode. Das Feriendomizil, das meist mit dem neuesten Komfort ausgestattet ist, wird von kleinen Dampfern geschleppt. Ist ein schönes Plätzchen erreicht, wird für Stunden oder Tage angelegt, die Reisenden besuchen die umliegenden Orte, unternehmen Ausflüge. Ein Pianino ist meist an Bord, und wenn sich eine lustige Gesellschaft zusammengefunden hat, wird abends ein flottes Tänzchen organisiert.

Zum Geheimtipp hat sich Interlaken am Fuß der Jungfrau entwickelt. Hier wird beides geboten – Natur und Komfort: »Der Luxus der Gasthöfe und die Eleganz seiner Insassen vermögen die landschaftlichen Reize, die sich Schritt auf Schritt offenbaren, nicht zu beeinträchtigen. Man macht sonst der Fremdenindustrie und den Hoteliers gern den Vorwurf, daß sie ihren Interessen alles opfern und selbst die von der Natur geschaffenen Schönheiten nicht schonen, wenn es ihnen Vorteile bringt, und doch haben sie gerade in Interlaken der Poesie der Natur ein großes Opfer gebracht«, lobt die Zeitschrift »Die Woche.«

Chroniknet