»Tierisches Zusammenleben«

Wohnen und Design 1911:

Die aus dem massenhaften Zuzug in die Großstädte resultierende Wohnungsnot ist das zentrale Thema dieses Jahres. Um wenigstens die Grundstücksspekulation einzudämmen, verabschiedet der Deutsche Reichstag die Wertzuwachssteuer.

Auf dem Zweiten Deutschen Wohnungskongress, der am 12. Juni in Leipzig stattfindet, zeichnet der frühere Schatzkanzler und Staatssekretär des Innern (Reichsinnenminister), Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, folgendes Bild von den Wohnverhältnissen der Arbeiter in den Großstädten: »Diese minderbemittelte Bevölkerung findet zum Teil keine ausreichenden Kleinwohnungen oder sie vermag die durch die enorm gestiegenen Bodenpreise und die Häuserspekulation emporgeschraubten Mieten nicht zu erschwingen. Wenn man bisweilen liest, daß in den Großstädten Tausende von Wohnungen leerstehen, so sind das meist nicht Wohnungen für die unteren Volksklassen. Ein wesentlicher Druck auf die Mieten pflegt auch durch eine solche Flaute nicht geübt zu werden, weil durch die hohen Erstehungskosten der Bauten und ihre hypothekarische Belastung eine wesentliche Ermäßigung der Mieten ausgeschlossen ist. So sucht der kleine Mann die Mietausgabe seines Jahreshaushalts herabzudrücken, indem er sich mit seiner Familie in den denkbar kleinsten Raum zusammenpreßt und womöglich noch Zimmermieter und Schlafgänger aufnimmt. Hierdurch entsteht die Erscheinung, daß je geringer die Miete, desto größer die menschliche Belastung des Rauminhalts der Wohnung. Kindersegen wird da zur gefürchteten Last, Unsittlichkeit zur notwendigen Folge fast tierischen Zusammenlebens von Familie und Fremden, die Übertragung aller physischen und sittlichen Ansteckungsstoffe zur unvermeidlichen Ursache fortschleichender Krankheiten und verbrecherischer Neigungen; Siechtum und Entartung von Körper und Seele erzeugen sich dort in solch überlasteten Massenwohnungen stets von neuem in ihrem eignen giftigen Dunstkreis.« Ein Hauptargument gegen solche Zustände nennt Posadowsky-Wehner zu Beginn seines Berichts: »Der ungünstige Einfluß des engen großstädtischen Zusammenlebens auf die Wehrfähigkeit ist erwiesen.«

Von allen belegten Wohnungen in Berlin verfügen nur 50% über ein beheizbares Zimmer, 15% haben keine Küche. Mehr als ein Drittel aller belegten Wohnungen in Berlin besteht nur aus einem beheizbaren Zimmer und der Küche. Von den Kleinwohnungen in Berlin sind 14% überbelegt. In 28% aller Zweizimmerwohnungen finden sich Schlafleute und Untermieter, selbst Einzimmerwohnungen werden untervermietet – diese erschreckenden Zahlen werden auf dem Kongress in Leipzig bekanntgegeben.

Schlafleute, auch Schlafburschen, Schlafmädchen oder Schlafgänger genannt, sind Menschen, die keine eigene Wohnung haben. Für sie gibt es »Schlafstellen«: Familien oder Alleinlebende bieten gegen Entgelt einen Schlafplatz an. Die Schlafstellen sind meist überfüllt: Familienmitglieder, Schlafburschen und Schlafmädchen nächtigen im selben Zimmer, oft sogar im selben Bett, ungeachtet der polizeilichen Bestimmungen. Diese sehen z. B. in Preußen vor, dass Schlafleute verschiedenen Geschlechts aus Gründen der Sittlichkeit nicht in einer Wohnung aufgenommen werden dürfen. Außerdem müssen ein Abtritt, Waschgerät sowie Wasch- und Trinkwasser vorhanden sein. Auf jeden Schlafgast sollen mindestens 3 m2 Bodenfläche und 19 m3 Luftraum entfallen. Jeder Schlafgast soll eine gesonderte Lagerstätte erhalten, die mindestens aus einem Strohsack und einem Strohkopfkissen, in unbeheizten Räumen zusätzlich aus einer Wolldecke bestehen soll. Zur Zeit gibt es rund 212 000 Schlafgänger in Berlin. Die Reichshauptstadt hat 2,07 Mio. Einwohner. Die geringe Qualität der Mietwohnungen und ihre Überfüllung infolge des Wohnungsmangels stehen in krassem Gegensatz zum weiträumigen, luxuriösen Hausbau der Oberschicht. Als Luxusgebäude par excellence gilt das in diesem Jahr fertiggestellte Palais Stoclet in Brüssel, ein »Gesamtkunstwerk«, in dem Architektur und erlesene Inneneinrichtung bis in die kleinsten Details (gediegen gearbeiteter Hausrat) aufeinander abgestimmt sind und bei dem es keinerlei finanzielle Beschränkungen gab.

Ein international aufsehenerregendes Projekt zur Lösung des Arbeiterwohnungsproblems entsteht mit der Werkssiedlung der Firma Krupp auf der Margarethenhöhe in Essen.

Chroniknet