Die Arbeiter verlieren ihre Arbeit – die Bürger ihren Besitz

Arbeit und Soziales 1923:

Bedingt durch die Wirtschaftskrise des Jahres 1923, ist die Situation der in der industriellen Produktion Beschäftigten durch ein drastisches Absinken des Lebensstandards und eine erheblich ansteigende Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Zudem wird der Achtstundentag, eine der bedeutendsten sozialstaatlichen Errungenschaften der Jahre 1918/19, zur Behebung der Wirtschaftskrise in vielen Bereichen der Industrie aufgehoben.

Ein weiteres, folgenschweres Ergebnis der Inflation ist die Auflösung und faktische Proletarisierung eines großen Teils des deutschen Mittelstands.

Der wirtschaftlich selbstständige und über einen gewissen Besitz verfügende Mittelstand (mittlere und kleine Unternehmer, Handwerker, Bauern, Ärzte, Anwälte) verliert seine Kapitalwerte durch die seit dem Weltkrieg fortschreitende, 1923 ihren Höhepunkt erreichende Markentwertung (ein US-Dollar ist im Januar 1919 8,9 Mark wert, im Januar 1923 117 972 Mark und erreicht im November 1923 den Höchststand von rund 4,2 Billionen Mark).

Durch die Vernichtung des Mittelstands entsteht eine für die innere Stabilität der Weimarer Republik gefährliche Sozialstruktur. Einer dünnen Schicht großen Reichtums steht eine Masse von Besitzlosen fast ohne Zwischenstufen gegenüber. Zudem führt die faktische Proletarisierung des bürgerlichen Mittelstands, besonders des Kleinbürgertums (Kleinbauern, Handwerker, Angestellte, untere Beamte), zu einer tiefen Bewusstseinskrise und politischen Orientierungslosigkeit im Bürgertum, das damit zu einem von rechten und rechtsradikalen Parteien mobilisierbaren Wählerpotenzial wird. Dieser Umstand – erkennbar an den Wahlergebnissen des Jahres 1923 – wird sich während der Weltwirtschaftskrise von 1929/33 als verhängnisvoll für die Weimarer Republik erweisen.

Auch das Leben der zur Unterschicht gehörenden Industrie- und Landarbeiter, Handwerksgesellen, Knechte und Mägde, Hausangestellten, Arbeitslosen, Rentner und Invaliden (49,2% der Erwerbstätigen) ist von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise des Jahres 1923 existenziell geprägt. Während die Lohnentwicklung seit Kriegsende bis Mitte 1922 etwa den wachsenden Lebenshaltungskosten entsprach, steigen die Löhne im Verlauf des Inflationsjahrs 1923 nicht gemäß der, besonders die Grundnahrungsmittel betreffenden, rasanten Preissteigerung. Die zu den bestbezahlten Arbeitern im Deutschen Reich gehörenden Berliner Maurer z. B. erhalten bis zur Währungsstabilisierung im November 1923 Wochenlöhne, die unter dem wöchentlichen Existenzminimum einer Familie mit zwei Kindern liegen (eine Ausnahme ist der September). Da die Preise in den Sommer- und Herbstmonaten täglich mehrmals steigen und eine kaum glaubhafte Höhe erreichen (1 kg Brot kostet im Juni 1253 Mark, im September 1,5 Millionen, im November 470 Milliarden), erwarten die Frauen ihre Männer am Zahltag vor den Fabriktoren, um mit dem Lohn sofort die notwendigen Einkäufe zu tätigen.

In einer noch größeren Notlage befinden sich die Arbeitslosen, deren Zahl seit September 1923 sprunghaft ansteigt. Im August sind 6,3% der Gewerkschaftsmitglieder arbeitslos, im Oktober 19,1% und im Dezember 28,2%. Am Ende des Jahres erreicht die Arbeitslosenzahl den höchsten Stand seit ihrer Erfassung: Die Reichsstatistik zählt am 1. Dezember 1,47 Millionen unterstützungsberechtigte Vollerwerbslose im unbesetzten Teil des Deutschen Reichs. Zusätzlich werden in den besetzten Gebieten rund zwei Millionen Arbeitslose unterstützt. Im Zusammenhang mit der wegen des Ruhrkampfs eskalierten Wirtschaftskrise geht die deutsche Industrieproduktion im Vergleich zum Vorjahr um 34% zurück.

In zahlreichen Städten kommt es wiederholt zu Hungerunruhen und Plünderungen; staatliche Stellen und Wohlfahrtsverbände bemühen sich, mit Volksspeisungen die allgemeine Not zu lindern.

Zu den gegen Jahresende eingeleiteten Maßnahmen für die Wirtschaftskonsolidierung gehört u. a. die Verordnung über die Arbeitszeit vom 21. Dezember 1923, mit der die Erweiterung des gesetzlichen Achtstundentags bis zum Zehnstundentag legalisiert wird. Da selbst die Gewerkschaften nicht bestreiten können, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise nur durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu überwinden ist, gelingt es der Reichsregierung unter Wilhelm Marx (seit 30. 11.) am 14. Dezember mit Arbeitgebern und Gewerkschaften eine Verständigung über die Verlängerung der Arbeitszeit in der Schwerindustrie zu erzielen (nun gilt die 54-Stunden-Woche für Schwerarbeiter und die 59-Stunden-Woche für andere Arbeiter).

Chroniknet