Ernährung, Essen und Trinken 1923:
Verursacht durch die Wirtschaftsmisere des Jahres 1923, ist die Ernährungssituation im Deutschen Reich äußerst kritisch. Folgende Faktoren verhindern die ausreichende Nahrungsmittelversorgung der Hunger leidenden deutschen Bevölkerung:
- Die enorme Preisinflation führt zu einem rapiden inländischen Kaufkraftverfall, so dass der Lebensstandard eines großen Teils der Bevölkerung unter dem Existenzminimum liegt.
- Wegen der negativen Handelsbilanz und der Reparationszahlungen fehlen dem Deutschen Reich die für den Nahrungsmittelimport dringend benötigten Devisen.
Besonders in den Großstädten wächst die Lebensmittelknappheit. Die Hausfrauen sind wegen der seit Mai z.T. täglich steigenden Preise bestrebt, das nicht einmal für die Grundnahrungsmittel ausreichende Geld so rasch wie möglich auszugeben. Hauptnahrungsmittel sind die Kartoffeln.
Von 28 Mark im Januar 1923 (Vorkriegspreis: 15 Pfennige) steigt der Kilopreis (ab Laden) für Kartoffeln in Berlin auf 333 Mark im Juni (monatlicher Durchschnittspreis) und erreicht am 26. November einen Stand von 80 Milliarden Mark. Da sich die Händler dem Ansturm der Kunden nicht gewachsen fühlen, muss im Juli der Frühkartoffelverkauf in Berlin unter Polizeischutz stattfinden.
Auf die Brisanz der Lage reagierend – während der zweiten Jahreshälfte kommt es in zahlreichen Städten zu Teuerungsunruhen und Plünderungen von Lebensmittelläden – appellieren Reichspräsident Friedrich Ebert und die Reichsregierung am 28. Juli eindringlich an die Landwirtschaft, die Erträge der Kartoffelernte »so schnell wie möglich … dem Verbrauch zukommen zu lassen«.
Das Kartoffelangebot ist von entscheidender Bedeutung, weil die übrigen Nahrungsmittel für viele Menschen nicht mehr zu bezahlen sind. So kostet in Berlin ein Kilogramm Rindfleisch im Januar 1923 bereits 2 730 Mark (Vorkriegspreis: 1,80 Mark), im Juni 20 700 Mark und am 26. November 5,6 Billionen Mark. Die Preise für die anderen Grundnahrungsmittel steigen in demselben Maß:
- Ein Ei kostet in Berlin im Juli 1914: 0,08 Mark, im Januar 1923: 139 Mark, im Juni: 793 Mark, am 26. November: 320 Milliarden Mark.
- Für einen Liter Vollmilch müssen in Berlin im Juli 1914: 0,24 Mark, Januar 1923: 241 Mark, Juni: 1380 Mark, am 26. November: 280 Milliarden Mark gezahlt werden.
- Im Juli 1914 kostet in Berlin ein Kilogramm Butter 2,60 Mark, im Januar 1923: 5 500 Mark, im Juni: 30 300 Mark, am 26. November: 5,6 Billionen Mark.
- Der Berliner Preis für ein Kilogramm Roggenbrot ist im Juli 1914: 0,28 Mark, im Januar 1923: 306,32 Mark, im Juni: 1253 Mark und am 26. November: 470 Milliarden Mark.
Um die Notlage weiter Kreise der großstädtischen Bevölkerung etwas zu mildern – bereits im Februar sind nach Erkenntnissen des Reichsgesundheitsamtes rund 50% der Kinder unterernährt -, werden von staatlicher Seite umfangreiche Volksspeisungen organisiert.
Auch die Kirchen und private Hilfsorganisationen geben unentgeltlich Mahlzeiten aus.
Das Ausland wird zunehmend auf die Hungersituation im Deutschen Reich aufmerksam. Das Internationale Rote Kreuz ruft am 7. Dezember zu Sammlungen für die notleidende deutsche Bevölkerung auf. Über 50 000 an deutsche Familien verschickte Lebensmittelpakete sind das Ergebnis der vom Bund der Reichsdeutschen in Österreich durchgeführten Hilfsaktion.
Aus der Not eine Tugend machend, empfiehlt die Presse einfache Rezepte für die Familienküche und animiert ihre Leser, kostenlose Nahrungsquellen z. B. durch die Pilzsuche zu erschließen. Da jedoch nicht alle Pilzsucher über die notwendigen Kenntnisse verfügen, häufen sich in erschreckender Weise die Pilzvergiftungen. Am 28. August z. B. sterben neun Mitglieder einer elfköpfigen Berliner Familie nach dem Genuss selbstgesammelter Pilze.