Die Lage der Arbeiter in Deutschland ist katastrophal

Arbeit und Soziales 1906:

Von der Lage der deutschen Lohnarbeiter zeichnet der frühere preußische Minister Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, Mitbegründer der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, in einem Vortrag in Jena ein katastrophales Bild: »Kaum mehr als ein Drittel der gewerblichen Arbeiter lebt in befriedigenden Einkommensverhältnissen. Die Hälfte kann leidlich auskommen, wenn sie durch Krankheit und Arbeitslosigkeit nicht gefährdet wird. Der übrige Teil lebt unter Bedingungen, die für den Unterhalt einer Familie, zur kräftigen Ernährung und hinreichenden Wohnung unzulänglich sind. Die rechtliche Lage der gewerblichen Lohnarbeiter hinsichtlich des Koalitionsrechts, der Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, der Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen durch die Gerichte und Verwaltungsbehörden ist gleichfalls vielfach unbefriedigend. Die Teilnahme der gewerblichen Lohnarbeiter an öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, an der Gesetzgebung und Verwaltung, an der Interessenvertretung für die Berufsverbände steht teils überall, teils in großen Teilen des Reiches hinter den anderen Klassen der Bevölkerung zurück.«

Am 26. Juli tritt in Belgien das Gesetz über die Einführung der Sechs-Tage-Woche in Kraft. Am 2. September tritt auch in Frankreich ein Gesetz in Kraft, das einen wöchentlichen Ruhetag vorschreibt, nicht betroffen von diesem Gesetz sind jedoch alle, die nicht Arbeiter oder Angestellte sind. Am 27. September wird in der norwegischen Zellulose-Industrie der Achtstundentag eingeführt; die Arbeiter erhalten den gleichen Lohn wie zuvor beim Zwölfstundentag. Das französische Parlament wiederum verabschiedet die Einführung eines staatlichen Rentenzuschusses, falls der jährliche Rentenbetrag unter 360 Francs (291 Mark) liegt. Gestärkt durch einen erdrutschartigen Wahlsieg, geht die neue liberale Regierung Großbritanniens unter Premier Henry Campbell-Bannerman daran, den im Wahlkampf propagierten »Wohlfahrts- und Sozialstaat« aufzubauen: Am 27. März wird als erstes das Gesetz über die Entschädigung bei Betriebsunfällen verabschiedet.

Chroniknet