Das industrielle Wachstum verändert die Sozialstruktur

Arbeit und Soziales 1912:

Der Aufstieg zu einer europäischen Industriemacht prägt die soziale und wirtschaftliche Realität im Deutschen Reich.

Die Arbeitslosenquote ist gering – 1912 beträgt sie 2% – und die Löhne steigen relativ stetig an, allerdings längst nicht in dem Maße wie die Lebenshaltungskosten. Bezogen auf das Jahr 1900 mit der Zahl 100 für beide Kategorien beträgt der Index in diesem Jahr für die Lebenshaltungskosten 130 und für den Reallohn nur 97. Diese Diskrepanz ist die Ursache für die häufig stattfindenden Streiks.

Folge der Industrialisierung und Basis der sozialen Struktur ist die wachsende Zahl der Fabrikarbeiter, die sich in den Industriegebieten konzentrieren. Zwei Drittel aller Deutschen leben 1912 in Städten, viele davon bereits in großstädtischem Milieu. Berlin als eines der bedeutendsten wirtschaftlichen Zentren ist die Stadt mit der größten Bebauungsdichte in Europa. Die Proletarierwohnungen in den engen Hinterhöfen, in die kaum ein Sonnenstrahl eindringt, zu wenig Räume für die kinderreichen Arbeiterfamilien sowie mangelnde hygienische Einrichtungen begünstigen die Ausbreitung von Krankheiten. Diese Zusammenhänge erkennend, bemühen sich vor allem die Sozialhygieniker um Abhilfe. Sie fordern die Gründung von Kindergärten und -heimen in gesunder Umgebung. So richtet z. B. die Stadtverwaltung von Berlin ein Schiff ein, mit dem Säuglinge aus den Arbeitervierteln jeden Morgen in eine gesunde Umgebung gebracht werden, und einzelne Fabriken bieten Betriebskindergärten an.

Einen weiteren Schwerpunkt ihrer Tätigkeit sehen die Sozialwissenschaftler in einer Verbesserung der Arbeitshygiene – z. B. in der chemischen Industrie – und im Arbeitsschutz. So fordert die Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz ein Beschäftigungsverbot für Kinder unter 14 Jahren. Zwölfjährige Kinder arbeiten noch immer in Handwerk, Landwirtschaft, Textilfabriken sowie Druckereien und fahren noch immer in Kohlengruben ein. In den schlesischen Bergwerken sind es 5% aller Beschäftigten.

Ein weiteres Ziel der Vereinigung ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für weibliche Beschäftigte, u. a. durch ein Nachtarbeitsverbot. Die Berufstätigkeit der Frauen nimmt ständig zu. Frauen drängen vermehrt in soziale Bereiche, aber auch in die Fabriken. Obwohl hier die Arbeitszeiten zehn und zwölf Stunden am Tag betragen, bedeutet dies für viele Frauen doch eine Verbesserung gegenüber der bis dahin weit verbreiteten Beschäftigung als Dienstbotin. Geringe Löhne und totale Abhängigkeit von der Herrschaft machen diese Arbeit immer unbeliebter, so dass sich die Behörden um gesetzliche Regelungen für die Dienstmädchen bemühen. Zur Behebung des Arbeitskräftemangels empfehlen sie die Abkehr von der noch aus dem Jahr 1810 stammenden Gesindeordnung und die Einführung von Arbeitsverträgen mit persönlichen Rechten für das Personal.

Die Verstädterung großer Teile der Bevölkerung geht einher mit einer umfangreichen »Wanderungsbewegung«, zumeist aus den osteuropäischen Gebieten – aus Polen, Galizien, Schlesien. Ziele der ehemaligen Handwerker und Landarbeiter, die sich ein besseres Leben versprechen, sind der Berliner Raum sowie das Rhein-Ruhr-Gebiet, wo sie jedoch häufig genug als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Als Ausländer und Ungelernte erhalten sie nur gering bezahlte Arbeiten und die schlechtesten Quartiere zugewiesen. In Krisensituationen werden sie als Erste entlassen und stehen so ständig vor der Gefahr, ins soziale Abseits zu geraten und das Los der Obdachlosen zu teilen.

Chroniknet